Endloses Nichts

19.-21.10.2018


-- ÖFFNE DIE AUGEN --


Erst war es nur ein leichtes Ziehen in der linken Schläfe, das sich langsam in die Stirn und die rechte Schläfe ausbreitete und nach und nach ein hässliches Grinsen des Schmerzes bildete. Nun jedoch schwillt dieses Ziehen zu einem dumpfen Pochen an, das sich kaum noch aushalten lässt. Es fühlt sich an als ob sein Kopf zu zerbersten droht. Und als wäre das nicht schon genug, hört er wieder diese zischende Stimme, der er doch ein für alle Mal entfliehen wollte.   


"Hey, genug gelegen. Öffne Deine Augen, schau Dich an, schau Dich um. Ich weiß, dass Du nicht auf Ewig hier rumliegen kannst. Das hast Du noch nie gekonnt. Also los, steh auf. Schau Dich um. Du kannst doch hier jetzt nicht für immer liegen bleiben."


Für immer? FÜR IMMER!


Nachdem er eine gefühlte Ewigkeit auf dem Boden lag, unfähig aufzustehen, sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, spürt er wieder diese Energie, diesen intrinsischen Antrieb, der ihn sein Leben lang ausgezeichnet hat.


Er will eigentlich nichts sehen, hören, machen - und vor allem nichts fühlen. Das war doch sein Ziel. Er wollte einfach nur entfliehen und seine Ruhe. Fliehen vor Allem, Ruhe von Allem. Doch die Stimme in seinem Kopf kennt kein Erbarmen und zischt weiter.


"Komm schon, genug gelitten und gesuhlt. Steh auf, sieh Dich um. Du warst so mutig, so konsequent – sei jetzt kein Weichei!"


Er versucht seinen Mund zu öffnen und der Stimme etwas zu entgegen, zu schreien, sie zu verfluchen, doch sein Mund ist staubtrocken und er bekommt keinen Ton heraus. Insgeheim weiß er aber, dass die Stimme Recht hat. Er hatte die Kraft um diesen Schritt zu gehen, um hier zu landen, also wird er auch die Kraft haben aufzustehen. So wie er immer wieder aufgestanden ist.

 

-- DUNKELHEIT --


Er rappelt sich mühsam auf, sucht und findet langsam sein Gleichgewicht und versucht im Dunkeln etwas zu erkennen. Als sich seine Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt haben und er das Gleichgewicht trotz schmerzlich brennender und seltsam feuchtwarmer Arme zurück erlangt, geht er sich langsam vorantastend den endlos langen Gang entlang. Die Wände fühlen sich unendlich kalt, beinahe frostig, an. Eine endlos scheinende Mauer aus kaltem rauen Beton auf der einen Seite, kalter, glatter Edelstahl auf der anderen. Unterbrochen werden sie  nur von hölzernen Türen, die allerdings allesamt verschlossen scheinen.


Nach Stunden des Tastens and Stolperns - zumindest kommt es ihm so vor als wären Stunden vergangen, er trägt keine Uhr bei sich und in der kaum durchdringbaren Dunkelheit fehlt ihm jegliche zeitliche Orientierung - scheint er dem Ziel immer noch nicht näher zu kommen. Dem Ziel, von dem er nicht mal weiß, ob es überhaupt existiert und was es sein könnte. Vor ihm scheint nichts zu liegen außer kaum zu durchdringender Dunkelheit, eingerahmt von den kältesten Mauern, die er jemals zu spüren bekam. Und er ist gegen viele Mauern gerannt und hat auf vielen Böden gelegen.


Er schaut vor und zurück und sieht nichts. Bzw. doch, er sieht etwas ganz klar: Ein durchdringendes Nichts. Zumindest scheint es so. Ein Lichtstrahl irgendwo am Ende des Tunnels? Fehlanzeige. Er konnte das Getue vom Licht am Ende des Tunnels noch nie ab. Eine Freundin meinte mal, das Licht am Ende des Tunnels wäre der Zug auf Kollisionskurs. Aber selbst diesen hat er viel zu selten gesehen. Vielleicht gibt es dieses oft beschworene weiße Licht irgendwo, denn immerhin kann er ja etwas sehen in der Dunkelheit. Das sagt ihm also, dass irgendwoher Licht kommen muss. Ohne eine Lichtquelle kann niemand etwas erkennen, egal wie sehr man sich an die Dunkelheit gewöhnt hat. Aber die Lichtquelle ist für ihn nicht auszumachen.

 

-- VERSCHLOSSENE TÜREN --


Völlig erschöpft lehnt er sich an die raue Betonwand und als seine wackligen Beine schließlich nachgeben, gleitet er an ihr zu Boden. Dabei kratzt er sich den Rücken großflächig auf, so dass nun neben seinen Armen auch sein Rücken höllisch brennt und etwas vom pochenden Schmerz im Kopf ablenkt.  

„Du willst doch jetzt nicht aufgeben“


„Was willst Du denn von mir? Was soll ich denn schaffen, wo soll ich hingehen, was soll mein Ziel sein? Hier ist doch einfach nur Nichts. NICHTS! Verdammt!“


„Aber das ist doch genau das, was Du wolltest, oder nicht? Ruhe. Ruhe vor mir. Ruhe vor ihnen. Ruhe vor allem. Und Ruhe vor Dir.“


„Du hast ja Recht. Aber Du weißt doch, dass ich mit Ruhe nicht umgehen kann“


„Dann durchbrich die Ruhe. Wie wäre es, wenn Du einfach ein paar Türen öffnest?“


„Die Türen sind doch alle verschlossen, das hast Du doch mitbekommen“


„Sind sie das? Zu jeder verschlossener Tür gibt es einen Schlüssel. Du musst ihn nur finden.“


„Und wie soll ich hier in der Dunkelheit den gottverdammten Schlüssel finde? Du hältst Dich wohl für besonders clever….“


„Versuche die Türen doch einfach nochmal zu öffnen. Manchmal tragen wir die Schlüssel zu verschlossenen Türen in unserem Herzen“


 

Ein paar Minuten lang zögert er noch, ob er wirklich versuchen soll die Türen zu öffnen. Was soll schon dahinter zu finden sein? Wahrscheinlich genauso das Nichts wie im Gang. Er hat sich für diesen Weg entschiedenen und muss jetzt die Konsequenzen dafür tragen. Das ist nur gerecht. Aber hat er irgendetwas zu verlieren?


Er rappelt sich auf und steuert auf die nächstbeste Tür zu.


 

-- ERINNERUNGEN --


Als er die erste Tür erreicht, atmet er tief durch, geht noch einmal in sich und versucht den Türknauf zu drehen. Und tatsächlich, einen kleinen Spalt weit bekommt er die Tür auf. Doch dann hakt sie. Undeutlich nimmt er vertraute Stimmen wahr, allerdings kann er nicht verstehen, was diese sagen. Alles, was er durch den kleinen Türschlitz sieht, ist vage und verschwommen und dennoch füllt sich sein Herz mit Wärme. Er weiß nicht warum, aber diese Vertrautheit tut ihm unendlich gut.

Er schließt die Tür wieder und geht zur gegenüberliegenden Tür, diesmal in die Stahlwand eingelassen. Als er diese Tür öffnet, weht ihm ein eisiger Wind entgegen. Er sieht ein Mädchen in der Ecke sitzen und weinen. Als er näher kommt, kann er erkennen, dass ihr Bein von Schnitten übersäht ist und sie ein blutiges Taschentuch in der Hand hält. Langsam geht er um das Mädchen rum und schaut ihr ins Gesicht. Als sie ihren Kopf hebt und ihn anschaut, durchzuckt ein Eisblizzard seinen Körper. Er hat noch nie solche Kälte und Bestürzung gespürt. Er kennt dieses Mädchen nur zu gut. Er rennt aus dem Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu. Zitternd lässt er sich wieder zu Boden sinken und schlingt die Arme um seine angewinkelten Beine. Er weiß nicht, ob er vor Kälte oder Bestürzung zittert, allerdings will das Zittern nicht mehr aufhören.

Die nächste Tür, diesmal wieder auf der Steinseite, hält ein Sammelsurium aus schönen Kindheitserinnerungen bereit. Einen Urlaub im Erlebnispark, die ersten erfolgreichen Fußballspiele, Erfolge beim Gedichtwettbewerb, Ausflüge mit den Eltern. Hinter der nächsten Tür auf der Stahlseite wartet dagegen die nächste eisige Erinnerung. So langsam versteht er, was hinter den Türen steckt. Es sind seine Erinnerungen. Schöne auf Steinseite, eisige auf der Stahlseite. Die ersten Konzerte mit der Band, das erste Mal Sex, die erste eigene Wohnung, die erste gemeinsame Wohnung, der Umzug ins Ausland, Trennungen, Freundinnen, die in die Dunkelheit entschwinden, Suizidandrohungen. Freundschaften, die zerbrechen und neue, die entstehen. Es ist sein Leben, durch das er hier die ganze Zeit wandert. Er öffnet Tür um Tür und spürt ein ums andere Mal eine tiefe Trauer, aber noch viel öfter unheimliche Wärme und Wohlbefinden.

Während er sich den Gang entlang durch die Türen arbeitet, merkt er gar nicht, wie er der Lichtquelle immer näher kommt und schlussendlich vor einer grellleuchtenden Tür steht.


 

-- ÖFFNE NOCH EINMAL DIE AUGEN --


Er legt seine Hand an den Türknauf und bemerkt zum ersten Mal seit er in der Dunkelheit erwacht ist wieder seinen Herzschlag. Das Herz pocht in seiner Brust und er holt tief Luft, bevor er die Tür öffnet. Was wird ihn dort erwarten? Er war sein Leben lang rationaler Atheist und hat jegliche Art von Paradies ausgeschlossen. Die Berichte vom Licht am Ende des Tunnels waren für ihn immer Hirngespinste verzweifelter Menschen, die Angst vorm Sterben haben. Und nun steht er an dieser grellleuchtenden Tür und wird das Geheimnis gleich lüften. Passend dazu hört er im Hintergrund ein Spannung erzeugendes Piepen und gerade als er mit zum Zerreißen gespannten Nerven die Tür öffnet, durchzuckt ein stechender Schmerz seine Brust und die Umgebung fängt an zu erbeben.

Er öffnet die Augen und sieht wieder nichts. Dieses Mal ist es keine Dunkelheit, die ihm zu schaffen macht. Dieses Mal ist es das grelle Licht. Nach einigen Sekunden versteht er, dass er in eine Taschenlampe eines Rettungssanitäters schaut. Er versteht nicht, was dieser sagt, aber er schafft es seinen Blick seinen Körper entlang zu richten. Was er dort sieht, holt ihn in die schmerzhafte Realität zurück. Notdürftig gebundene, blutgetränkte Verbände an den Armen, Elektroden auf der Brust, Infusionsnadel im Arm. Er schaut nach links und sieht den Herzschlagmonitor im Rettungswagen, der einen beständigen Puls auf dem Monitor anzeigt. Er schaut Richtung Sanitäter und sieht die unendliche Erleichterung in dessen Augen. Und dann sieht er nach rechts und sieht sie dort sitzen, völlig aufgelöst mit rot verquollenen Augen. Sie muss ihn gefunden und den Rettungswagen gerufen haben. Ihr Blick versetzt ihm einen Stich in der Brust, der schlimmer ist als alle, die er bisher ertragen musste.

 

NIE WIEDER. Nie wieder so eine Scheiße, schwört er sich. Und hört die Stimme leise böse lachen.