Kapitel 1 – Eine neue Welt


Einmal hin und nie wieder weg, aus dieser Stadt voll Sünde und Stadt voll Dreck


 

Willkommen in Berlin

12 Wochen bis Tag X


Kriminalhauptkommissar Weinert wartet ungeduldig. Schon 10 Minuten drüber, wo bleibt nur die neue Kollegin? Wenn er eines nicht ausstehen kann, dann Unpünktlichkeit. Und kalten Kaffee. Und Niederlagen von Union Berlin - aber das kommt in letzter Zeit erfreulicherweise nicht mehr so häufig vor. Seit der neue Trainer da ist, läuft es richtig gut. Zu gut. Er gehört zu den Fußballromantikern, die den Tod des traditionellen Fußballs überall herauf beschwören. Bei der fortschreitenden Kommer-zialisierung vielleicht auch kein Wunder. Seine Gedanken schweifen schon wieder ab und als er das bemerkt, steigt seine Ungeduld noch mehr. Er trommelt mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum bis einer der Kollegin ihm einen genervten Blick zuwirft.

Da hat er sich den Vormittag extra freigeräumt um die neue Kollegin zu begrüßen und einzuweisen und sitzt jetzt einfach nur so rum. Tick, tack, tick, tack, tick, tack.

"Dem Jör werde' ick wat husten",

denkt er sich, während er sich den fünften Kaffee eingießt.

"Scheiße, der is ja völlij kalt. Welcher Depp hat den denn nich richtij zujemacht? Bestimmt eener von Euch Hertha-Heinis, wa? Verdammte Sitzklatscher!"

ruft er durch das Büro. Keine Antwort. Martin denkt sich, dass er anscheinend etwas gelassener werden sollte, wenn die Kollegen nicht mal mehr auf solche Flüche reagieren. Vielleicht sollte er mal öfter in das Superfood Café um die Ecke gehen oder etwas Yoga machen. So ein Sonnengruß soll ja Wunder bewirken können und hin und wieder mal ein Chai-Tee ist gut für das Gemüt. Einfach mal die Seele baumeln lassen.  

Kriminalhauptkommissar Weinert schaut wieder auf die Uhr. 18 Minuten drüber - der Puls steigt.

 


 

Das ist Berlin?

12 Wochen bis Tag X


Sara ist orientierungslos. Irgendwas hat sie wohl falsch gemacht. Mittlerweile sitzt sie in der 4. Bahn, doch trotz Geschubse, Gedrängel und Gerenne scheint sie ihrem Ziel nicht näher zu kommen. Dabei sollten es doch von Ihrer vorübergehend untergemieteten Wohnung bis zum Revier nur 25 Minuten Fahrweg sein. Eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung im Hinterhof eines unsanierten Altbaus. Zwischen Plattenbauten und S-Bahn Gleisen. Sie hätte sich nie träumen lassen einmal in so einer Wohnung zu leben. Überall bröckelt der Putz, das Laminat hat seine besten Zeiten hinter sich, die alten Holzfenster klappern. Es fühlt sich an wie in Der Himmel über Berlin von Wim Wenders – nur eben in Farbe und 3D. Aber wenigstens wurde vor ihrem Einzug noch der Kohleofen gegen Fernwärme ausgetauscht.

Wahrscheinlich hat sie irgendetwas verwechselt. Lichtenberg, Lichterfelde, Lichtenrade – Friedrichsstraße, Friedrichshain, Friedrichsfelde, Friedenau - Hellersdorf, Heinersdorf - Treptow, Teltow, Karow. Hier heißt aber auch alles gleich und liegt dann doch ewige Fahrzeit auseinander. Außerdem kann man sich noch nicht mal an der Architektur der Stadtteile orientieren. Selbst in Ihrer Straße stehen neue Eigentumswohnungen dicht an dicht neben unsanierten Altbauten.

"Hier soll ich ab jetzt leben?",

fragt sie sich schon völlig verzweifelt als sich auch noch gegenüber von ihr jemand in der Bahn ein Bier aufmacht. Um 9:25. Vormittags. An einem Montag. Und niemanden scheint es zu interessieren. Aber wenigstens wird damit der beißende Dönergeruch vom Nebenmann überdeckt...

Vielleicht hatten meine Eltern doch Recht, dass die große Stadt – und speziell Berlin – nichts für mich ist. Kleinstadt-Kind bleibt wohl Kleinstadt-Kind."

Aber sie möchte Ihren Kopf noch nicht in den Sand stecken. Dazu hat sie viel zu hart für Ihren Traum gekämpft. Nicht einfach nur Polizistin sondern Polizistin bei der Mordkommission zu werden. Sie wollte schon immer die Verbrecher jagen und Menschen beschützen und nun hofft sie diesen Traum so wahr wie möglich zu machen. Mit Kriminalhauptkommissar Weinert hat sie dann auch einen ausgesprochenen Fachmann als Mentor und Vorgesetzten zugeteilt bekommen, der in Fachkreisen einen exzellenten Ruf genießt. Allerdings soll er wohl auch sehr streng, penibel und auf Pünktlichkeit bedacht sein und sie ist jetzt schon 18 Minuten zu spät. Zu allem Überfluss ist sie sich nicht einmal sicher, ob sie jetzt in der richtigen Bahn sitzt. Anrufen kann sei bei Weinert aber auch nicht, der Akku ihres Smartphones ist leer. Den Start in die Zusammenarbeit hat sie sich wahrlich anders vorgestellt. Sie muss an das Bild mit der Katze denken, die sich als Tiger in der Pfütze spiegelt und macht sich selbst Mut. Sie war Jahrgangsbeste und wird als großes Talent gehandelt. Sie darf sich jetzt nicht nur nicht klein machen. Der erste Eindruck ist so wichtig, wenn sie schon zu spät ist, dann möchte sie nicht auch noch unsicher und verängstigt wirken.

Als sie dann doch endlich am Ziel ankommt, geht sie noch schnell in ein Café um dem Kriminalhauptkommissar einen Kaffee mitzubringen. Denn wenn sie eines gelernt hat, dann dass eigentlich jeder Cop gern Kaffee trinkt. Das scheint eine internationale Regel zu sein. 5 min später steht sie vor dem Laden und zweifelt noch stärker an ihrer Berlin-Kompatibilität. War es jetzt wirklich nötig einen entkoffeinierten Karamell Soja Latte Macchiato mit Haselnuss-Sirup und veganer Sprühsahne für 3,80 Euro zu kaufen? In ihrer Heimat hätte sie nur zwischen Schwarz und mit Milch zu entscheiden gehabt – dafür hätte sie aber mit großer Wahrscheinlichkeit die Kuh gekannt, von der die Milch stammte.

Überhaupt, die Heimat. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber sie vermisst ihre Heimat,  ihre Eltern, ihre alten Freunde und sogar ihre erste eigene Wohnung. Und doch war es keine Option für sie in der Heimat zu verbleiben, nach allem was mit Dennis - Ihrem Ex-Freund - war. Nach all dem Guten, das Sie erlebt haben, aber auch dem Ende, das sie beide nicht so ganz verstanden und das so unendlich sehr schmerzte. Schnell schiebt sie die Gedanken an die Heimat zur Seite und versucht sich innerlich auf das Treffen vorzubereiten.

Nur noch 5 Stufen.

 

 


Eisiger Empfang

12 Wochen bis Tag X


32 Minuten zu spät steht Sara dann endlich vor Kriminalhauptkommissar Weinert. Schuldbewusst tritt sie von einem Bein auf das andere und überreicht nach einer kurzen frostigen Begrüßung den veganen Spezial-Kaffee.

"Kleenet, det is ja nett jemeint, aber nächstet Mal bringste eenfach nen Schwarzen mit, okay?“,

entgegnet ihr ein sichtlich amüsierter Kriminalhauptkommissar Weinert.

Also Kaffee, fasteht sich, wa?

Als er jedoch den ersten Schluck nimmt, vergeht ihm das Grinsen.

Det schmeckt ja scheußlich! Keen Wunder, det aus die Hipster-Typen niemals richtje Männer werden, wenn die ständij so'n Jelumpe trinken“,

murmelt Martin. Als er sieht, dass Sara verzweifelt versucht sich das Grinsen zu verkneifen und trotzdem verschmitzt drein blickt, schließt er sie sogleich ins Herz. Berliner haben ja für gewöhnlich eine große Klappe und ein ebenso großes Herz, wenn man erst einmal vordringt. Und Kriminalhauptkommissar Weinert - der Zugezogene - ist wahrscheinlich berlinischer als so mancher Berliner. ‚Aber‘, denkt sich Martin, ‚heute werde ich sie das noch nicht spüren lassen.

 

Sara fühlt sich eingeschüchtert, etwas wie das Kaninchen vor der Schlange. Da steht Kriminalhauptkommissar Weinert ihr nun gegenüber, dieser erfahrene, profilierte und geachtete Polizist, und knurrt sie an. An die berühmte Berliner Schnauze wird sie sich wohl so schnell nicht gewöhnen. Dass sie gleich am ersten Tag zu spät kam und dann beim Kaffee so daneben lag, lässt ihren Mut auch nicht gerade steigen. ‚Augen zu und durch‘, denkt sich Sara. ‚Von jetzt an kann es ja nur besser werden‘.

Das letzte Mal, dass sie sich so klein, unbedeutend und verloren fühlte, war während ihres Austausch-Semesters in der Polizeiausbildung. Sie ging damals nach Stockholm, zum neuen Polizei-Studiengag an der Södertörns Högskola in Flemingsberg. Sie hat schwedische Krimis immer so geliebt und wollte die Stadt in der die Geschichte vom Krähenmädchen spielt selbst erleben. Als sie jedoch im Pendeltåg von Central Station nach Fleminsberg fuhr, über die große Brücke vor Hammarby Sjöstadt mit Aussicht zum Stadshuset, und das Stimmengewirr wahrnahm ohne etwas zu verstehen, da fühlte sie sich das letzte Mal so klein und eingeschüchtert wie jetzt. Obwohl sie Schwedisch sehr mag und es mit dem Lesen und Schreiben auch klappt, musste sich sich eingestehen, dass es beim Hören extrem hapert. Das nahm ihr für einen kurzen Moment den Mut.

Nun fühlt sie sich also wieder so klein und unsicher – dank Kriminalhauptkommissar Weinert.


 

 

Dreck dieser Stadt

15 Wochen bis Tag X


Oh wie er sie hasst, diese Stadt. Diese Stadt, die überall gehypt wird. In Deutschland wie im Ausland. Diese Stadt, in der jeder irgendwann einmal zu leben scheint, die jedoch die Wenigsten richtig kennen bzw. kennenlernen wollen. Und noch einmal weniger bleiben für immer. ‚Verständlich‘, denkt er sich. ,Verständlich‘.

Sein Blick schweift über den Bahnhof Rosenthaler Platz. Vor ihm kriechen besoffene Alkies auf dem Boden rum. Kriechen ist hier definitiv das passende Wort, der Situation angemessen und beschreibend, wie diese Menschen ihre Würde Stück für Stück an den Alkohol verloren haben – verkauft für das kurze Gefühl der innerlichen Wärme. Die meisten Fahrgäste machen einen großen Bogen um die Szenerie, er jedoch schenkt ihr seine ganze Be- und Verachtung. Endlich kommt die U8. ‚Bloß weg von hier‘, denkt er sich. In der Bahn werfen Jugendliche mit Gegenständen um sich, andere baumeln an den Griffstangen von der Wagendecke.

„Alexanderplatz!“

Bald geschafft. Aber auch hier ist der gesamte Boden mit Verpackungen eines Burger Schnell-Restaurants übersäht.

Früher hätte er solche Beschreibungen für Übertreibungen, für Stereotype und Klischees gehalten, die nur von irgendwelchen überforderten oder gar neidischen Kleinstadt-Menschen kommen können. Heute weiß er: Es ist keine Übertreibung sondern nur ein ganz normaler Dienstag-Abend. 

‚Jemand sollte sich um die Stadt kümmern‘, denkt er sich. ‚Jemand, der auch den Mumm hat anzupacken‘. Er betrachtet sein Spiegelbild in der U-Bahn-Scheibe. Wie schade, dass er schon eine andere Mission zu erledigen hat.

 

 

 

Manchmal kommt es schneller als man denkt

11 Wochen bis Tag X


Nach dem Kriminalhauptkommissar Martin Weinert Sara durch das Revier geführt, allen relevanten Kollegen vorgestellt und mir Ihr die kommenden Tage und Wochen durchgesprochen hat, lässt er sie für die ersten vier Tage wieder nachhause gehen. Er gibt ihr ein paar Hausaufgaben mit, Gedanken die sie sich machen soll um sich auf die wirkliche Arbeit als Kriminalkommissar-Anwärterin vorzubereiten. Ein paar alte Fallakten durchwühlen z.B. um sich mental auf die Arbeit als Kriminalpolizistin in der Großstadt vorzubereiten. Denn das, was da auf sie zukommen wird, lernt man an keiner Polizeischule. Schon gar nicht bei einer Stadt wie Berlin, in der alles möglich ist  und eben leider auch alles nur erdenkliche passiert.

Den Rest der Woche verbringt Sara also erst einmal abends mit Akten zuhause und tagsüber einem Kollegen von der Schutzpolizei auf Streife. Kriminalhaupt-kommissar Weinert hat schon Recht, wenn er argumentiert, dass sie sich erst einmal an die Stadt, das raue Berliner Klima und die ganz eigenen Probleme einer Stadt dieser Größe gewöhnen soll. Trotzdem fühlt es sich an wie eine Bestrafung.

Nun ist sie also unterwegs und darf sich beispielsweise mit den Alkies am Bahnhof Lichtenberg auseinandersetzen. Diese tun zwar selten jemandem wirklich was, sorgen aber für latente Unruhe indem sie rumschreien, pöbeln und mit Flaschen schmeißen. Besonders fassungslos macht es sie, wenn diese Menschen xenophobe Parolen brüllen. ‚Refugee Schlampe‘ oder ‚Bahnhofsklatscherin‘ wurde sie dort von schon fast jedem betitelt.

„Den Flüchtlingen schiebt ihr allet in den Arsch und uns lassta farecken.“

Sara muss sich echt zusammenreißen um keine unüberlegte Reaktion zu zeigen. Während Flüchtlinge eine lebensgefährliche Reise auf sich nehmen um ihrem Elend, Hunger Verfolgung oder Krieg zu entkommen, hier in Wohncontainern leben – oftmals in völliger Unwissenheit ob der  Zukunftsperspektiven -, reicht bei den Alkies anscheinend das Geld um an jedem Sonnentag hier rumzusitzen, das teure Bier vom Dönerstand (und nicht dem wesentlich günstigeren Supermarkt nebenan) zu kippen und zu pöbeln statt ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Dann sollten sie wenigstens mal ihre Rassistenfressen halten. Doch leider muss sie in solchen Situationen deeskalierend wirken.

Kriminalhauptkommissar Weinert hatte durchaus recht. Berlin ist eine völlig andere, neue Welt für sie. Das Problem der Obdachlosigkeit bzw. das konkrete Ausmaß selbiger in Berlin beispielsweise hat sie ziemlich schockiert. Die ersten Tage auf Streifen waren da schon extrem hart. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt auch im Privaten überall Obdachlose zu sehen. Diese sind dabei nicht immer im Negativen auffällig wie die Lichtenberger Sauftruppe, ganz im Gegenteil. Es gibt jede Menge nette und engagierte, wie beispielsweise den Straßenzeitungsverkäufer, den sie schon öfter in der Bahn getroffen hat oder die Obdachlosen, die an Banken oder Bahnhöfen die Türen aufhalten. Aber hier am Bahnhof Lichtenberg… Sie ist froh, wenn nächste Woche die Streifenzeit vorbei ist und sie endlich ins Morddezernat kommt.     
               

Zu Beginn der nächsten Woche sitzt sie morgens mit Kriminalhauptkommissar Weinert zusammen in der Polizeikantine zum Frühstück mit Brötchen und Kaffee – diesmal einfach schwarz. Auch wenn viele Kollegen immer über das Essen hier schimpfen, Kriminal-hauptkommissar Weinert findet es mehr als brauchbar. Vielleicht manchmal etwas zu fleischlastig, aber nicht so schlecht. Er fand auch die Idee des donnerstäglichen Veggie-Days gut und wurde dafür regelrecht angefeindet. Als grüner Gutmensch, Veganfaschist oder sogar Pädo-Freund. Ihm schlug damals so viel Dummheit und noch mehr Hass entgegen, dass er bei dem Gedanken daran heute noch grinsen muss.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“,

fragt die sichtlich verunsicherte Sara.

“Wat? Nee, wieso denn det?“

Vielleicht war er letzte Woche doch etwas zu knurrig zu ihr.

„Weil Sie so grinsen.“

Er muss lachen.

„Allet jut, Kleene. Aber een Tipp hab ick für Dir: Tritt selbstbewusster uff. Det wird deen Standing bei die Kollejen enorm verbessan. Haste deren Blicke jesehen? Nimm Dir vor allem vor die Jungchen in Acht. Die warten nur so auf hübsche junge Kollejinnen wie Dir. Die haben bestimmt jewettet, wer Dir als erstet kricht. Aber glob mir, Affären uffe Arbeit sind ne janz schlechte Idee – vor allem wenn sie irjendwann vorbee sind und Dir deene alte Affäre den Rücken freihalten soll.“

Sara wird rot. Noch bevor sie aber etwas entgegen kann, klingelt Kriminalhauptkommissar Weinerts Telefon – oder Smartphone wie jetzt ja die ganzen jungen Menschen gern sagen. Dabei hat Weinert das Gefühl, dass die Menschen nicht unbedingt smarter werden...

Nach einem kurzen Telefonat sieht Kriminalhauptkommissar  Weinert Sara ernst an.

„Jenuch jequatscht, et wird ernst. Wir haben eene Leeche. 24 Jahre alt, weiblich, schwarze Haare. Keene Anzeechen uff Drojen oder ähnlichet. Mehr im Besprechungsrom.“

Sie schaut ihn verblüfft an.

„Na komm. Bezahlt wirste für’t Ermitteln, nich für’t Rumsitzen und Palavern, wa?“

„Jawohl, Herr Kriminalhauptkommissar Weinert. Ich bin bereit.“

„Jut. Dann zeegste jetzt den janzen jungchen Typen mal, wat de druff hast, junge Dame. Und immer dran denken: Brust raus, Rücken jerade, Kop hoch!“

Vielleicht ist Kriminalhauptkommissar Weinert ja doch gar kein so übler Vorgesetzter.

„Ach ja, Du kannst mir übrijens Martin nennen.“  

 

 


Schmutz und Schande

Irgendwann, immer wieder


Er liegt in der Badewanne und schaut zu wie das Wasser langsam steigt und einzelne Tropfen von der Wasseroberfläche zurückprallen. Es ist ein schöner, beruhigender Anblick. Er selbst ist auch nichts weiter als ein abprallender Tropfen. Anders als die Masse und doch so anonym in selbiger. Ein mikroskopisch kleiner Teil des Ganzen. Praktisch unsichtbar und doch da. Deshalb hat auch nie jemand bemerkt, was mit ihm los ist. Und als er  versuchte es ihnen zu sagen, sich öffnete und die Wahrheit erzählte, da glaubte ihm niemand.

Er versucht den Dreck der Vergangenheit abzuwaschen. Doch auch nach 20 Minuten Baden spürt er ihn noch auf der Haut. Er greift zum Schwamm und fängt an zu schruppen. Er hört erst auf als sich das Wasser leicht rot zu färben beginnt und seine aufgescheuerte Haut brennt. Zumindest für einen Moment wird das Gefühl von Schmutz und Schande überdeckt.   

 

              


Die Unterführung

11 Wochen bis Tag X


Was für eine tolle Probe! Mit der Band wird es immer besser. Wer hätte gedacht, dass Folk-Metal so viel Spaß macht? Sie – Musikstudentin aus gutbürgerlichem Hause – zwischen den Metal- und Hardcore-Jungs. Atmosphärische Violinen-Parts zwischen Double-Base und Drop-Gitarren. Stakkato-Streichen und Saiten-Zupfen zwischen Harsh Vocals und donnernden Bässen. Diese Band hat ihr komplett neue musikalische Perspektiven eröffnet. Und sogar das ORWO-Haus mit den bemalten Wänden von denen der Putz bröckelt und dem Fahrstuhl, bei dem man jedes Mal froh ist, wenn er wieder aufgeht, gefällt ihr mittlerweile richtig gut. Ein kreativer Hotspot, so wie Berlin!

Als sie durch die Unterführung unter der Landsberger Allee hindurch läuft, muss sie lächeln. Anfangs hatte sie hier echt Schiss, vor allem  Spätabends wie jetzt. Im Vergleich zu ihrer gutbürgerlichen Wohngegend ist Marzahn schon ein besonderes Pflaster. Aber selbst dieses Gefühl hat sich mittlerweile geändert, die Angst ist sie los. Sie ist froh sich von ihrem Vorort-Mäuschen-Status zu emanzipieren.

Während sie leichtfüßig durch die Unterführung hüpft – hat sie sich etwa in den Sänger verguckt? – bemerkt sie ihren Schatten nicht, der ihr blitzschnell von hinten die Gitarrensaite um den Hals wirft und zuzieht. Sie hat keine Chance ihre Finger dazu zu bekommen und sich irgendwie aus der Schlinge zu befreien. Die Saite ist einfach zu dick und zu fest - eine 0.54er, nickelummantelt. Verdammtes Drop-C.


 

 

Wut

11 Jahre vor Tag X


Er wirft das nächste – das er zu fassen bekommt – gegen die Wand. Diesmal ist es ein Schlüssel. Die Wut kommt aus dem Nichts, überfällt ihn und kanalisiert sich auf diese Weise. Seine Eltern sind nach zahlreichen Behandlungsversuchen am Ende mit ihrem Latein. Deshalb schicken sie ihn ab dem nächsten Schuljahr auf ein Internat. Weg von zuhause, seinen Freunden, seinem täglichen Leben. Das ist ihre letzte Hoffnung. Für ihn fühlt es wie die maximale Bestrafung an. Ein Internat irgendwo im nirgendwo.

Diese latente Wut in ihm war schon immer da, seit er gedenken kann. Und sie braucht keinen expliziten Auslöser, keinen direkten Grund. Es lodert kontinuierlich in ihm und von Zeit zu Zeit kommt es zu Eruptionen wie bei einem Vulkan. Manchmal ohne Vorwarnung, immer jedoch heftig.

Diese Ausbrüche brachten ihm jede Menge Ärger, führten zu Bestrafungen, Hausarrest und irgendwann auch Prügel. Dafür hat er dann Tiere gequält und Sachen angezündet. Dafür gab es dann wieder Bestrafungen und Prügel. So hat sich die Spirale immer weiter gedreht. Wut führte zu dummen Aktionen, diese zu Prügel, Prügel zu unkontrollierbarer Wut.

Nun also ein Internat. Ein katholisches Internat. Mit Morgengebet, Gemeinschaftsdienst, Beichten. Beim bloßen Gedanken daran wird er wieder wütend.


 

 

Besprechungsraum

11 Wochen bis Tag X


„Juten Tach meene Herren! Wie et aussieht, ha‘m wa nen neuen Fall. Brutaler Mord an eener Musikstudentin. Bevor wa jedoch ins Detail jeh'n, möchte ick Euch unsere neue Kollejin Kriminalkommissar-Anwärterin Sara Jass vorstellen. Sie hat ihre Polizisten-Ausbildung mit Bravour jemeistert, währenddessen Auslandserfahrung jesammelt und ist jetzt hier in Berlin jestrandet. Bitte begrüßt sie mit mir und heißt se herzlich willkommen. Ach, und Jungs, Finger wech!“

Ein freundliches Murmeln geht durch den Raum.

„Also, wat ham wa? Steffen?“

Martins Blick wandert erwartungsvoll durch den Raum und bleibt bei einem Polizisten seines Alters kleben.

„Danke Kriminalhauptkommissar Weinert.“

Sara schaut erstaunt.

„Wir haben ein Opfer – 24, weiblich, Musikstudentin -, das in Marzahn gefunden wurde. In einem Gebüsch nahe den Bahnschienen. Sie wurde mit einem einschneidenden Gegenstand erdrosselt, möglicherweise so etwas wie eine Metall-Sehne oder ähnliches. Da kein Portemonnaie gefunden wurde, gehen wir von einem Raubmord aus.“

„Wie wurde sie ohne Papiere so schnell identifiziert?“,

fragt Martin sichtlich überrascht.

„Wir haben neben ihr einen Violinen-Koffer mit Adressvermerk gefunden.“

„Das war kein Raubmord“,

platzt es aus Sara heraus. Lautes Gemurmel brandet auf. Sie ist erst ein paar Tage hier und widerspricht schon einem gestandenen Kollegen?

„Schau Martin“,

plötzlich Totenstille. Hat die neue Kriminalkommissar-Anwärterin KHK Weinert gerade tatsächlich geduzt? Er nickt ihr freundlich zu.

„Wäre es ein Raubmord gewesen, warum liegt dann die Violine noch dort? Für diese bekommt man sicher mehrere hundert Euro bei ebay Kleinanzeigen. Das Ganze soll wahrscheinlich nur nach einem Raubmord aussehen.“    

Erstaunte Blicke.

Martin unterbricht die Sitzung für 10 Minuten und geht auf den Flur um Kaffee an dem Automaten zu holen, der so selten funktioniert. Aber heute macht der Automat mal eine Ausnahme. Quasi Pause vom Pause machen. Sara folgt ihm.

„Was war denn das?“

fragt sie verwundert.

„Warum habe ich Dich als einzige geduzt?“

„Kleene“,

lächelt Weinert,

„Alter charmanter Polizistentrick. Jetzt ham se alle Respekt vor Dir

 

 


Allein in der großen Stadt

11 Wochen bis Tag X

G-Dur, A-Dur, H-Moll, A-Dur, D-Dur, A-Dur…

Sara sitzt auf ihrer Second Hand Couch, die sie bei ebay Kleinanzeigen für nen Appel und nen Ei gefunden hat und lässt ihren Blick durch Ihr Zimmer schweifen. Mittlerweile hat sie alle Kartons ausgepackt und sich die Wohnung – soweit möglich – recht wohnlich eingerichtet. Nur ein Karton steht noch unangetastet in der Ecke. Sie nimmt den Karton in die Hand und setzt sich wieder auf die Couch, wagt es jedoch nicht ihn zu öffnen. Stattdessen starrt sie minutenlang den Deckel an während im Hintergrund Jennifer Rostock klagt:  

Du bist so laut in meinem Kopf und alles dreht sich,
Ich versuch dich zu vergessen doch es geht nicht,
Ich lieg wach und bleib ratlos,
was soll ich tun? Du machst mich schlaflos.

Da sitzt sie nun in dieser Einzimmerwohnung in der neuen großen Stadt, in der sie sich noch allein und teilweise etwas verloren fühlt. In Martins Nähe fühlt sie sich interessanterweise mittlerweile relativ sicher und beinahe schon geborgen. Das ist seltsam, da sie sonst recht lang braucht um zu Menschen irgendwelche Beziehungen aufzubauen. Doch bei ihm ging das relativ schnell. Auch wenn er anfangs sehr knurrig war und sie relativ kühl abblitzen ließ, hat er sich doch schnell erwärmt und sie aufgenommen. Es erfüllt sie immer noch mit Stolz, dass sie ihn duzen darf und viele seiner gestandenen Kollegen noch beim Sie sind.

Eigentlich müsste sie gerade rundum zufrieden sein und die pure (Lebens-)Freude versprühen. Sie ist endlich dort angekommen worauf sie jahrelang hingearbeitet hat – bei der Mordkommission und das in Berlin -, wird von ihrem Chef respektiert und hat sogar eine bezahlbare Bleibe gefunden. All das ist nicht selbstverständlich. Und trotzdem ist da dieses nagende Gefühl…

Sie stellt den Karton beiseite. Warum hat sie überhaupt die Erinnerungen an Dennis mitgenommen? Was wollte sie damit bezwecken? Sie ist sich ja nicht einmal sicher, ob sie vor Dennis bzw. ihrer Beziehung mit ihm nach Berlin geflohen ist oder ob er im Endeffekt das Opfer ihrer Karrierepläne wurde. Sie weiß nur, dass es vorbei ist und auch dabei bleiben wird. Dabei bleiben muss. Also, weshalb hat sie diesen verdammten Karton überhaupt mitgenommen?

Vorsichtshalber verstaut sie ihn ganz hinten im Klappfach der TV Wand und hofft ihn dort zu vergessen. Während sie sich ihr Schlafzeug anzieht und die Haare durchkämmt, läuft von ihr unbemerkt im Hintergrund der Soundtrack ihrer letzten Monate: 

Siehst du meine blutigen Handballen
Vom Fallen und vom gegen die Wand prallen
Siehst du, wie ich mich verletzt hab
Mit jedem Stich, den ich dir versetzt hab

Ein paar Herzen gecrasht, Brände gelegt
Ein paar Spuren auf meinem Weg
Ist das okay? Ist das okay?

(Jennifer Rostock – Deiche) 

 

 


Spiegel

13 Wochen bis Tag X


Er steht vor dem Spiegel und schaut in sein müdes Gesicht. 10 Jahre ist es nun her und doch kann er die Erniedrigungen und Qualen immer noch in seinem Gesicht erkennen. Jeden Morgen im Bad erinnert sein Spiegelbild ihn an das was war. Was für immer ein Teil von ihm sein wird.

Du bist schwach

meldet sich spöttisch die Frauenstimme in seinem Kopf.

Nein, bin ich nicht“,

flüstert er.

Ich bin stark. Sie haben versucht mich zu brechen, aber ich bin stark geblieben. Sie werden mich nie brechen.

 „Lügner! Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Du bist schwach. Sie haben dich gebrochen und verhöhnt. Immer und immer wieder. Und solange Du Dich nicht wehrst, wirst Du immer schwach sein. Schwach, schwach, schwach! Gestern war erst der Anfang“.

 

Ein Scheppern hallt durch das enge Bad, als er in den Spiegel schlägt und Scherben sich überall im Raum verteilen. Schon wieder. Dieses Spiegelbild eines kraftlosen Versagers, eines Schwächlings, der immer ein Verlierer und Opfer sein wird, will er nicht mehr sehen.