Kapitel 3 – Der geheimnisvolle Fremde


Drum wähle weise, wer ist Freund und Feind,  für immer dann im Schicksal vereint


Berliner Nachtleben

10 Wochen bis Tag X


Für heute hat sie genug gesehen. Warum wollte sie eigentlich nochmal unbedingt zur Mordkommission? So langsam zweifelt Sara, ob  diese Berufswahl die richtige Entscheidung war. Statt das Berliner Kultur- und Nachtleben zu entdecken, sitzt sie tagein, tagaus bis spät in den Abend mit dem knurrigen Martin vor Aktenbergen und schaut sich Bilder toter Frauen an. Frauen aus den unterschiedlichsten Milieus ohne erkennbare Verbindungen untereinander. Nur eines ist gleich: es handelt sich immer um Frauen im Alter zwischen 23 und 28 Jahren, allesamt das, was man landläufig als hübsch bezeichnen würde und alle schwarzhaarig. Bisher gibt es schon vier Opfer, aber keine Spur.

All die Adjektive treffen im Übrigen auch auf Sara zu, auch wenn sie sich niemals als schön bezeichnen würde. Manchmal hat sie das Gefühl ihren eigenen Tod zu sehen. Gruselige Vorstellung. Und das soll das Richtige für eine 25-jährige sein? Akten statt Alkohol, Leichen statt Laster? Sara beschließt heute Abend in einen Club zu gehen. In das legendäre Berghain traut sie sich noch nicht, aber die Liste an Berliner Clubs ist ja Gott sei Dank lang.

Sara genießt die Nacht. Mittlerweile hat sie sich den einen oder anderen Drink gegönnt – bei den lächerlichen Getränkepreisen hat sie nicht so genau mitgezählt - und beschließt, dass Club Nr. 4 definitiv der letzte sein wird. ‚Vielleicht hat die Stadt ja doch etwas zu bieten‘, denkt sie sich. ‚Aber jetzt sollte ich lieber nachhause. Martin wird morgen seinen Spaß mit mir haben…

Als sie sich zum Ausgang begibt, zeigt der Alkohol seine Wirkung. Ihr ist leicht schummerig, als sie aus dem Club hinaus auf die Straße tritt um Richtung Taxi zu torkeln. Dabei fällt ihr der Type auf, der vor dem Club steht und raucht. Sie könnte schwören, sie hätte ihn schon in ein oder zwei anderen Clubs gesehen.

Saralein, du hattest wohl zu viel. Es ist Zeit fürs Bett“,

lallt sie sich selbst zu.

Wobei er ja schon ein Süßer ist

Obwohl sie Raucher normalerweise abstoßend findet, lächelt sie den Fremden schüchtern an als sie an ihm vorbei geht. Im Taxi dreht sie sich noch einmal um, aber da ist der geheimnisvolle Fremde schon nicht mehr zu sehen. Verschwunden in die Dunkelheit der Nacht.   


 

 

In den Weiten des Darknet

12 Wochen bis Tag X

Er tippt eine komplizierte Kombination aus Ziffern und Punkten in die Adresszeile seines Tor-Browsers. Nach einigen Sekunden landet er auf einer nur über diese IP Adresse zu erreichenden Webseite. Als no-index Seite konzipiert und ohne URL für keine Suchmaschine aufspürbar ist sie sein Tor zum sogenannten Darknet. Von hier aus erreicht er alle Seiten, die er irgendwie braucht und die kein normaler Mensch je finden wird. Seine neue Lieblingsseite allerdings ist gerade offline. Kinder vor Webcams, die auf Kommando für etwas Bitcoins – der gängigen Internetwährung – sowie etwas Anerkennung von fremden Menschen ihre Haustiere quälen. Wahnsinn und faszinierend, wie einfach Menschen im Netz gesteuert werden können. Neben Spaß bietet das Netz aber auch praktische Hilfe. Bspw. jede Menge Chemikalien. Heute bestellt er Benzol- und Diazepin-Ringe um damit selbst Benzodiazepine – besser bekannt als K.O. Tropfen - herstellen zu können. Als Belohnung für seinen erfolgreichen Beutezug bestellt er sich gleich noch zwei Snuff Movies – die wollte er schon immer einmal ausprobieren.

Nach seiner kleinen Darknet Tour kehrt er ins normale Netz zurück – dank des Tor Browsers immer noch praktisch unsichtbar. Die nächste Stunde verbringt er damit, auf Facebook, Tinder, OkCupid, Badoo und Lovoo nach potentiellen Opfern zu suchen. Heutzutage geben die Menschen  ja wirklich alles über sich preis. Bis hin zu Handynummer auf ihren Profilbildern – damit man sie ganz einfach bei WhatsApp finden kann. Ein Paradies für Menschen wie ihn – wie Eiersuchen zu Ostern, nur eben viel einfacher.


 

 

Plötzlich hellwach

10 Wochen bis Tag X


Martin kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er von seinem Schreibtisch hoch in Saras aschfahles Gesicht schaut. So wie sie da als ein Häufchen Elend dasteht, kann er ihr die Kopfschmerzen regelrecht ansehen. Sara spürt die spöttischen Blicke der Kollegen, aber damit muss sie jetzt umgehen.

Na Kleene, jestern jut jebechert, wa? Aber wer feiat, kann och arbeiten. Hier haste ne Aspirin und frisch ans Werk.

Sara schaut zu wie sich die Aspirin im Wasser langsam auflöst. Das Sprudelgeräusch beruhigt sie ungemein und lässt sie kurz ihren schweren Kopf vergessen. Verdammtes Berliner Nachtleben... Statt einen weiteren Tag Akten zu wälzen, wäre sie jetzt lieber irgendwo im Urlaub am Strand. Das Sprudelgeräusch erinnert sie entfernt an einen Wasserfall und wenn sie die Augen schließt, kann sie direkt eine kleines Lagune vor sich sehen und…     

Rumms. Martin reißt sie aus ihren Gedanken als er eine unvollständige und doch benutzt aussehende Akte mit dem aktuellen Datum auf ihren Tisch knallt. Sara ist immer wieder erstaunt, wie schnell Martin es schafft frische Akten mit Kaffee oder Fettflecken zu besudeln. Diese hier kann ja erst wenige Stunden alt sein und sieht doch bereits aus wie aus dem Archiv.

Sara öffnet die Akte und ist blitzschnell wieder wach. Als sie die Fotos und die ersten Untersuchungsergebnisse durchgeht, wird ihr schlagartig wieder übel. Diesmal aber liegt es nicht am Alkohol. In den Toiletten eines der Clubs, in denen sie gestern feiern war, wurde eine tote Frau gefunden. Sie wurde vermutlichen mit K.O. Tropfen betäubt und danach erwürgt. Eine sexuelle Handlung scheint es jedoch nicht gegeben zu haben. Gefunden wurde das Opfer erst heute Morgen nach Clubschließung - von einer Reinigungskraft beim Putzen der Toiletten.

Sara schließt kurz die Augen und krallt sich in die Akte, doch kann sie den Gedanken nicht beiseiteschieben. Sie ist sich sicher sich an das Opfer zu erinnern – wenn auch nur dunkel. Allerdings kann sie sich die Bilder wieder in den Kopf rufen, wie das spätere Opfer ausgelassen auf der Tanzfläche tanzt, den Kopf in die Nacken wirft und herzlich lacht. Sie wirkt dabei, als wäre diese Nacht die beste Nacht ihres Lebens. Zumindest aber war es die letzte. Nun liegt sie in der Rechtsmedizin – kalt auf eisigem Stahl.

Opfer Nummer 5.


 

 

Ein Tag im Mai

Jede verdammte Nacht


Martin ist auf dem Weg nachhause. Mal wieder musste er die Nacht auf dem Präsidium verbringen. Immer diese kniffligen Fälle… Trotzt seiner erst 33 Jahre fühlt er sich nach dieser Nacht wie kurz vor der Rente. Jetzt schnell noch ein Bad und dann ab ins Bett. Vorher muss er aber noch seiner Klara einen Kuss geben, bevor sie in die Schule geht. Und natürlich seiner zauberhaften Helena, die hoffentlich nicht allzu sauer ist. Er hat mehrfach versucht sie vom Revier aus anzurufen, sie gestern aber einfach nicht erreicht.

Als er die Wohnung betritt, horcht er auf – denn er hört nichts. Keine Klara, keine Helena, kein Summen aus der Küche – einfach nur Stille. Eine beängstigend leblose Stille. Er läuft durch die Wohnung, öffnet jede Tür und schaut in jedes Zimmer, doch es ist niemand da.

Auch in den nächsten 17 Jahren sollte er seine Helena und seine kleine, süße Klara nicht mehr wiedersehen. Nachdem er 4 Jahre lang jede freie Minute mit der Suche nach ihnen verbrachte und alle legalen – sowie viele illegale – Polizei-Ressourcen nutzte, wechselte er vor 13 Jahren aus dem Drogendezernat seiner Heimat nach Berlin in die Mordkommission. Ein Lebenszeichen der Beiden hat er jedoch nie aufspüren können. Doch auch ihre Leichen wurden nie gefunden, sodass eine unbestimmte Hoffnung in noch heute quält doch gleichzeitig am Leben hält.

Noch jede Nacht hat er seither von jenem Tag im Mai geträumt. 

 


 

Sauna

9 Wochen bis Tag X


Sara holt tief Luft, streckt ihre Brust raus und den Rücken durch, schließt die Augen und genießt ihren Handtuch-Abschlag heiße Luft. Hmm, Grapefruit-Orange. Neben der Banja – der puristischen russischen Sauna-Variante, deren Aufguss-Zeremonie mit purem Wasser und Birken-Zweigen zelebriert wird - sind Citrus-Aufgüsse Saras liebsten. Sie beruhigen, vitalisieren und lassen sie an Sommer und Strand denken. Ein Kontrastprogramm, das sie momentan wirklich gebrauchen kann.

Bereits fünf Opfer und  sie haben noch keine zwingenden Hinweise. Das nagt ziemlich an ihr. Auch wenn sie auf der Polizeischule immer zu hören bekommen hat, dass solche Durststrecken normal sind und such die Teams davon bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen dürfen, hat sie sich ihren ersten Fall wahrlich nicht so vorgestellt. Statt dem Täter erfolgreich auf die Spur zu kommen und nach einer intensiven Jagd als gefeierte Heldin oder mindestens als Teil des erfolgreichen Teams dazustehen, fühlt sie sich momentan klein, unbedeutend und ziemlich erfolglos. Zwar hat sie Recht mit Ihrer Beobachtung, dass der Mord der Musikstudentin nichts mit Raub oder Beschaffungskriminalität zu tun hatte, danach blieben die Erfolgserlebnisse allerdings aus. Und so kreisen Ihre Gedanken Tag und Nacht nur um den Fall, die Opfer, das mögliche Profil des Täters. Aber heute nicht. Heute steht ganz allein sie mal im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.   

Als der Aufgießer gerade die zweite Runde vorbereitet und das aromatisierte Wasser auf die Steine tropfen lässt, sodass es zischt und dampft, schaut sie sich in der Sauna um. Überall nackte, schwitzende Menschen. Jung – alt, dünn – dick, naturbelassen – gepierct und tätowiert. Bis auf die beiden Aufgießer in Saunashirts und Shorts sind alle Schwitzenden gleich. Es gibt keine künstlichen Hierarchien, keine Abgrenzungen durch Kleidung, Streifen auf der Schulter oder Dienstgrade und – glücklicherweise – auch keine angezogenen Gaffer wie an manchen FKK Stränden. Da achten die Aufgießer und Bademeister im T.U.R.M. in Oranienburg nördlich von Berlin penibel drauf. Hier sind alle Menschen gleich und vereint in der einen Sache: einfach nur gemeinsame Entspannung wie Gott - oder eben die Natur – sie schuf. Egalité. Dieser Kontrast zum Job tut Sara sichtlich gut.

 

Er hasst Saunen. Und Thermen. Und Schwimmbäder allgemein. Nicht, dass er es nicht mag in der extremen Hitze zu schwitzen oder zu schwimmen. Eine Privatsauna wäre ein Paradies. Es sind die Menschen, die ihn nerven. Zum Beispiel die verliebten Teenager, die ihre ganz ganz große Liebe – zumindest für die nächsten 8 Wochen – im Nichtschwimmer-Becken fast auffressen. Oder die ganzen nackten, aufgequollenen Körper in der Sauna. Ganz ehrlich? Es gibt kaum etwas Unästhetischeres als tropfende Menschen bei 95°. Da hängt alles, ob Mann oder Frau, jung oder alt. Sein angewiderter Blick schweift durch die Sauna und verharrt in Schockstarre. Das ist doch diese neue Kommissarin, Sara oder wie sie heißt. Jung und hübsch ist sie, eigentlich genau sein Fall.

Unauffällig verkriecht er sich wieder tiefer in der Ecke der Panorama-Sauna, damit sie ihn nicht sehen, er sie jedoch im Auge behalten kann. Er hat das Gefühl, dass sie noch von Bedeutung sein könnte, daher beschließt er von nun an besser jeden ihrer Schritte so weit möglich zu verfolgen. Beinahe, wie ein unsichtbarer Schatten.


 

 

Kind der Nacht

Einen Tag später

Es schlägt Mitternacht. Aus seiner windschiefen, von Deko-Spinnweben übersäten, Kuckucksuhr in Form eines Geisterschlosses erscheint Gevatter Tod und köpft sein vor ihm kniendes Opfer 12 Mal mit der Sense. Was die meisten Menschen wohl geschmacklos oder übertrieben kitschig fänden, inspiriert ihn. Solch makabrer Kitsch, der es schafft als subversiv getarntes Element der Subkultur das Spießbürgertum sogar in seine sonst so kahle Wohnung zu bringen. Das Internet macht es möglich – so wie es ihm auch vieles Andere ermöglicht hat.

Er sitzt auf seinem Bett und macht das, was er nachts meistens macht, wenn er keine Orte ausspäht oder Frauen beschattet – sich kreativ verwirklichen. Er schreibt Gedichte, verfasst Kurzgeschichten oder malt Fantasiebilder. Manche davon verkauft er recht erfolgreich, sodass er sich damit einen kleinen Nebenverdienst aufbauen konnte. Die morbiden Gedichte, Geschichten und Bilder kommen vor allem in der Gothic-Szene gut an. Andere dagegen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sondern viel eher eine Art Tagebuch, zutiefst persönlich und ergreifend. So wie eines seiner momentanen Lieblingsbilder, an dem er gerade arbeitet. Es zeigt einen weißen Ritter, der einem dunklen zotteligen Wesen – eine Art Drache mit Fell – den Kopf abschlägt. Ein anderes zeigt eine Gans mit abgeschnürtem Hals, die verzweifelt um Luft ringt. An der Seite des Bildes lauert bereits der Kater und schleckt sich das Mäulchen, während im Hintergrund das Dorffest in vollem Gange ist. Es gibt noch 4 weitere düstere Szenen, die er nur für sich selbst gezeichnet hat. Alle nummeriert auf Papier. Irgendwann möchte er sich eine Art Privatgalerie anschaffen und diese Bilder sollen dann zusammen in Reihe ausgestellt werden. Zusammen erzählen sie eine eindrucksvolle Geschichte, von der das große Finale noch aussteht. Für jenes große Finale – das Bild Nummer 10 - hat er sich sogar eine richtige Leinwand und Öl-Malfarbe gekauft – dem finalen Akt gebührt eben die große Bühne.

Plötzlich gerät er ins Stocken. Eine kreative Blockade? Die Striche wollen gerade einfach nicht durch den Bleistift auf das Papier. Er geht in die Küche und kocht sich einen Tee. Während er da sitzt und wartet, dass das Wasser endlich kocht, durchlebt er noch einmal jene Nacht in allen Einzelheiten. Er kann ihr Glück und ihr Verliebtsein geradezu riechen und wieder fühlen wie es sich blitzschnell in Angst bzw. blankes Entsetzen verwandelte. Er kann das Aufbäumen ihres Körpers wieder spüren, den kurzen Kampf noch einmal erleben und noch einmal das warme Blut auf seinen Händen spüren, als sich die Gitarrensaite in ihre Hals-Schlagadern schnitt.

Er sitzt bis tief in das Morgengrauen auf dem Bett und verfeinert das Bild bis ins kleinste Detail. Wüsste man nicht, dass es keine fellüberwucherten Drachen gibt, man könnte das Bild beinahe für ein Foto halten, ein wahres Meisterwerk. Es wirkt beinahe so, als hätte es diese Szene tatsächlich gegeben und er wäre dabei gewesen…

 


 

Der doppelte Schatten

Xxx Tage bis Tag X


Seit Tagen ist Sara verändert, aber Martin dringt einfach nicht zu ihr durch. So ein herausragender Polizist er auch sein mag, Zwischenmenschlichkeit war noch nie seine Stärke. Jegliche Emotionalität größer der eines Kaktusses ist ihm suspekt.  Früher oder später tritt er immer in das bekannte Fettnäpfchen. Nur sind diese meist eher ein Schwimmbecken als kleine Näpfe. Aus diesem Grund spricht er sie auch nicht darauf an was mit ihr los sein könnte. Wenn ihr etwas auf der Seele brennt, wird sie schon früher oder später zu ihm kommen.

Sie fühlt sich seit Tagen beobachtet, so als ob ihr jemand im Schatten folgte. Das Gefühl begleitet sie überall - in der Disko, im Bus, sogar in der Polizeikantine. Die einzige Stelle, an der sie sich unbeobachtet fühlt, ist die Damentoilette auf dem Präsidium. ‚Immerhin etwas‘, denkt sich Sara als sie dort 5 Minuten verharrt. 5 Minuten Auszeit. Auszeit von der emotionalen Belastung, weg von all den Akten, den toten Frauen und Martins Geknurre. Sie weiß, dass er tief in seinem Herzen ein toller Mensch ist, es aber hinter einer eisernen Fassade versteckt. Was dafür wohl der Auslöser gewesen sein mag? Vielleicht ja sogar vergleichbar mit dem, was sie aus ihrer Heimat flüchten ließ? Das würde zumindest erklären, warum er die Berliner Schnauze, den Dialekt und die ganze Art zu leben so extrem angenommen hat. Wie eine neue Identität – als Flucht vor der Vergangenheit. Was war er wohl vorher für ein Mensch?

Auf dem Flur zurück in den Einsatzraum der SOKO Schneewittchen – Sara findet den Namen immer noch sehr makaber – beschleicht sie wieder das Gefühl des doppelten Schattens. Als sie sich umdreht, ist der Flur jedoch menschenleer und die Tür zum Treppenhaus fällt ins Schloss.

 

 

 

 

 

Schwimmen

Xxx vor Tag X


Einsam schwimmt Richard seine Bahnen – oder eher Zickzacklinien. Er ist ja ganz allein im Kaulsdorfer See und muss deshalb nicht auf irgendjemanden Rücksicht nehmen. Deshalb liebt er es kurz nach dem Morgengrauen zum See zu fahren. Da hat man noch seine Ruhe und ist ungestört. Sein Ziel ist es, heute mindestens 45 min am Stück zu schwimmen, die Triathlon-Saison steht immerhin bald vor der Tür.

Seine Gedanken sind irgendwo anders, als er sich einbildet unter der Wasseroberfläche etwas gesehen zu haben. Etwas, das er nicht beschreiben kann, das aber definitiv hier nicht hingehört. Obwohl er nicht genau erkannt hat, was seine Aufmerksamkeit erregt hat, beschleicht ihn ein beklemmendes Gefühl. Er schüttelt den Kopf, atmet tief durch und zieht weiter seine Bahnen. Zehn Minuten später stößt er einen entsetzen Schrei aus, der jedem potentiellen Zeugen durch Mark und Bein gegangen wäre, als er etwas mit seinem Bein streift. Richard versucht die Panik zu unterdrücken und logisch zu denken. Irgendetwas hat ihn da gerade am Bein berührt, aber er ist doch ganz allein im See. Was soll es also gewesen sein? Müll von Badegästen, ein Fisch, eine Ente? Oder hat er es sich vielleicht einfach nur eingebildet? Aber erst vorhin eine optische Täuschung und jetzt das? Es gibt eigentlich keinen Grund, warum er heute besonders schreckhaft sein sollte.

Nach einer kurzen Pause des Abwägens beschließt er zu der Stelle zurückzuschwimmen. Als er sich jedoch umdreht und losschwimmen möchte, schaut er in die weit aufgerissen Augen einer Frau. Ihr Gesicht ist aufgequollen, die haut schneeweiß mit Flecken, ihre Lippen blau und der Körper steif.

Seine schlimmste Horrorvorstellung ist wahr  geworden.


 

 

Loreley

Xxx Tage bis Tag x


Noch etwas Deckweiß auf das Blau und das Wasser sieht gleich viel lebendiger aus. Er betrachtet das Bild. Es ist definitiv ein gutes Werk. Vielleicht nicht sein bestes, aber ein gutes. Eine Réplique auf die Klassik mit veränderten Geschlechterrollen. Zeitgeist trifft Tradition, Feminismus trifft klassische Kultur und Mythen - wenn das nicht nach Berlin passt, was dann?

Das Bild wird sich wunderbar in seiner Privatgalerie machen neben seinen anderen unverkäuflichen Bildern machen. Unter dem Wasser badet eine männliche nackte Loreley, sein Lied singend und mit Muskelspiel lockend. Auf der rechten Bildseite sitzt eine Frau auf einem kleinen Felsen bereit ins Wasser zu steigen. Ihre Kleidung hat sie bereits abgelegt, der Blick geht Richtung Wasser. Die Sehnsucht in ihr ist direkt spürbar, wenn man das Bild anschaut. Der Himmel ist trostlos und grau, nur direkt über dem Felsen öffnet er sich etwas und lässt die Sonne auf das Wasser scheinen. Eine glitzernde helle Zukunft, die nicht lang dauern wird.     

Zufriedenheit macht sich in ihm breit. Auf die Vorlage für dieses Bild ist er besonders stolz.


 

 

Endlich wieder Sonne

Xxx Tage bis Tag X


Martin sitzt im Park und genießt die Sonne. Es ist ein herrlicher Frühsommertag und heute hat er mal einen Tag frei. Er muss endlich seinen Resturlaub abbummeln mit dem er schon seit Monaten drüber ist. Arbeit in Behörden – zumindest in Berlin – ist auch nicht immer so entspannt wie oft behauptet. Die Berliner Startup-Mentalität greift überall in dieser Stadt um sich. In der Politik, in Behörden, bei den Öffentlichen Verkehrsmitteln, im alltäglichen Leben.

Nun kann er also endlich mal die Seele baumeln lassen. Wenn auch nur über ein verlängertes Wochenende hinweg. Aber wenigstens etwas. Er sitzt im Café im Park, liest seine Zeitung, isst ein Stück Kuchen, genießt die Sonne und macht sich einfach mal keine Sorgen und Gedanken. Soweit es beim ihm möglich ist. Plötzlich verspürt er eine enorme Lust sich ein Fahrrad zu schnappen und zum See zu fahren. So wie er es mit Helena immer gemacht hat – und später dann komplett mit der kleinen Familie. Er verwirft den Gedanken schnell wieder und versucht stattdessen angestrengt sich in einen belanglosen Feuilleton-Artikel über Kunst im Spannungsfeld der postfaktischen Politik zu vertiefen. Obwohl er sich durchaus für gebildet hält, kann er mit dem Inhalt absolut nichts anfangen. Er ist sich nicht einmal sicher, ob der Autor seinen eigenen Text versteht. Er vermutet, dass es sich eher um Name Dropping sowie das Aneinanderreihen möglichst vieler Fremdwörter und Fachbegriffe handelt um irgendwie relevant zu wirken. Echte Substanz kann er nicht entdecken. Allerdings kann das auch einfach daran liegen, dass Kunstkritik absolut nicht sein Feld ist. Trotzdem versucht er verzweifelt den Text zu verstehen und sich für ihn zu interessieren um den Gedanken an den See loszuwerden. Das letzte Mal als er allein an den See gefahren ist, hat er einen mittelschweren Zusammenbruch erlebt, von welchem er sich wochenlang kaum erholt hat. Also besser nicht dran denken.

Sein Smartphone klingelt und reißt ihn aus dem Delirium.

„Wir haben eine Leiche. Weiblich, dunkelhaarig, Anfang bis Mitte Zwanzig. Wahrscheinlich ertrunken, zumindest im See gefunden.“

Martin hat selbst einmal eine Richtlinie eingeführt, die solche Anrufe kurzhalten soll und nur Fakten in den Mittelpunkt stellt. Harte Fakten, keine Interpretation, nur Information damit die Kollegen kommen. Allerdings sollen die Kollegen möglichst unvoreingenommen am Tatort ankommen und diesen selbst sprechen lassen. Jetzt im Moment kommt ihm diese Art der Informationsübermittlung allerdings unendlich hart und grausam vor.

„Naja, nun muss ich wenigstens nicht alleen zum See“

murmelt Martin vor sich hin, legt einen Zehner auf den Tisch, wirft die Zeitung in den Mülleimer und macht sich auf den Weg. Urlaubstag gestrichen, wieder neue Überstunden. Aber wenigstens keine Einsamkeit.