Kapitel 2 – Die Arbeit ruft


Das Erste Mal

11 Wochen bis Tag X


Nach der Besprechung fahren Martin und Sara zum Tatort. Die Stimmung ist angespannt – Martin graust es jedes Mal davor Tatorte zu begehen, besonders wenn die Opfer altersmäßig seine Töchter sein könnten. Seine Gedanken schweifen dann jedes Mal ab, bleiben an jenem Tag im Mai hängen und produzieren schaurige Bilder in seinem Kopf. Und wenn er ehrlich ist, kriecht auch jedes Mal diese surreale Angst in seinen Körper, dass er dort Klara finden könnte.

Sara sieht, wie es in Martin arbeitet. Seine Kiefer mahlen und seine Knöchel sind schon ganz weiß, so fest umklammert er das Lenkrad. Sollte es ihr jetzt genauso gehen? Sie weiß nicht, ob sie sich dafür schämen muss, aber irgendwie freut sie sich beinahe. Es ist ihr erster Tatort, ihr erster Fall. Nun geht es also endlich los. Nun kann sie sich beweisen, auch wenn sie sich erstmal im Hintergrund halten sollte. Vor lauter Aufregung vergisst sie beinahe, dass eine junge Studentin nun tot und all dies der Grund für ihre Anspannung ist.

Am Tatort werden sie schon von der Spurensicherung erwartet. Als sie aussteigen, zieht ein älterer Beamter eine Augenbraue hoch.

„Martin, heute mit Praktikantin? Seit wann bringen wir die an den Tatort mit?“

Martin winkt nur müde ab. Sara hingegen muss ihre Wut hinunterschlucken. ‚Na warte, Dir alten Sack werde ich es zeigen‘, denkt sie.

Der Tatort als solcher ist schon im Tageslicht schaurig. Sie mag sich nicht vorstellen, wie sich das Opfer fühlte als es bei Nacht durch die Unterführung musste. Die Beleuchtung flackert, die Wände sind voll von Graffiti. Dabei handelt es sich keineswegs um künstlerisches Graffiti a la Banksy sondern um Gang-Tags, obszöne Sprüche und Penisbilder. Darüber hinaus riecht es streng nach Urin. Sara hält es kaum aus. Wie kann man als Frau nur nachts durch so eine Unterführung gehen? Sara beißt sich auf die Zunge. Wie kann SIE nur SO denken? Das Opfer hat ganz sicher nicht Schuld an dem, was passiert ist. Sie ist erschrocken, dass sogar sie vor Victim Blaming nicht gefeit ist.    

Martin sucht das Gespräch mit der Spurensicherung.

„Gibt es irgendwelche  Auffälligkeiten, die auf das Motiv schließen lassen?“,

erkundigt er sich. Tatort-Erstberichte und Akten sind das Eine, es noch einmal selbst zu sehen und zu besprechen das Andere.

„Keine Auffälligkeiten so weit. Bzw., doch schon. Es gibt eben keine Anzeichen für irgendetwas. Nach vorläufiger Erkenntnis wurde sie nicht missbraucht, es wurde ihr nichts entwendet bis vielleicht auf etwas Geld und auch sonst gibt es nichts Nennenswertes. Einfach nur einen ganz normalen Tatort – falls es so etwas gibt. Irgendwie zu normal.“

Martin nickt und schaut sich weiter um. Die Gegensätze sind schaurig faszinierend. Dort die Studentin aus bürgerlichem Hause, adrett gekleidet, mit Violine. Hier der nach Urin stickende Tunnel samt Graffiti und Blutlache. Er studiert die Graffitis. Aber nichts, kein Hinweis.

„Martin“,

ruft Sara plötzlich.

„Ich glaube, ich habe hier etwas.“

Martin geht zu Sara hinüber, die auf den Boden deutet, und folgt ihrer Geste. Etwas glitzert auf dem rauen Steinboden. Er kniet sich hin und schaut genauer hin. Eine silberfarbene Kette mit Kreuz hat sich halb in der Ritze zwischen zwei windschiefen Steinplatten versteckt.

„Die Kette wird sie wohl beim Angriff verloren haben. Anscheinend hat sie sich gewehrt“,

murmelt Sara etwas in Gedanken versunken.

„Anscheinend hat ihr komischer Gott ihr aber auch nicht helfen können“,

erwidert Martin grimmig.      

 

 


Der Kaffee danach

11 Wochen bis Tag X


Der beruhigende Duft des Kaffees ist ein wohltuender Kontrast zu dem eben erlebten. So einen Tatort muss man erst einmal verarbeiten können. Martin hat es sich zur Gewohnheit gemacht, nach einer Tatort-Begehung mit den betreffenden Kollegen in ein Café zu gehen. Nicht zu Starbucks oder McCafé – obwohl der Café auch dort gut schmecken kann – sondern in kleine Eck-Cafés mit Seele, die es hin und wieder auch in Berlin noch gibt. Man muss nur wissen, wo. Diese Gemütlichkeit, dieses teilweise als hip verkleidete Konservative, dieses Gefühl von einer Welt, die noch in Ordnung war, bilden einfach eine Sicherheit, die er nach solchen Eindrücken unbedingt braucht.

Nun sitzen er und Sara vor duftenden Kaffeetassen und je einem großen Stück Kuchen. Sara versucht immer wieder Theorien zu besprechen, Martin aber besteht darauf erst einmal zu schweigen. Obwohl Sara wie auf Kohlen dasitzt, ist es wichtig den Tatort und die Eindrücke von der Begehung wirken zu lassen. Details wie die Violine, die Kette oder auch die Graffitis könnten später noch eine wichtige Rolle spielen. Deshalb muss der Tatort unvoreingenommen verinnerlicht werden.

Nach einer Weile durchbricht Martin das Schweigen.

„Wir sollten noch nich zu viel spekulieren. Der Tatort erjab keene klaren Anhaltspunkte, wir müssen in diesem Fall also erst recht in alle Richtungen ermitteln. Erjebnisoffen und gründlich. Aber zuerst müssen wa mit die Eltern reden.“

Sein Blick trübt sich. In solchen Momenten hasst er seinen Job.

„Lass uns eenfach nur hoffen, det et een Beziehungsdrama oder een Streit mit ‘nem Dealer war. Bei diese Musiker weeß man ja nie. Hoffentlich is det nich een weiterer Irrer in dieser Irrenanstalt von Stadt.“

Sie bleiben noch eine Weile schweigend sitzen und fahren dann zu den Eltern des Opfers. Martins Knöchel sind wieder weiß, diesmal aber hat auch Sara ein flaues Gefühl im Magen. Jede Aufregung und Vorfreude ist plötzlich verflogen.

 


 

Bilder eines anderen Lebens

11 Wochen bis Tag X


Zurück zuhause gießt sich Martin erst einmal einen Bourbon ein, geht zum Schrank und legt eine alte Queen-Schallplatte auf. Das war die letzte Platte, die Helena ihm geschenkt hat. Er hatte sich auf einem Flohmarkt in diese Platte verliebt, aber sie hatte sie ihm ausgeredet. Zwei Wochen später wurde er nach einem langen Tag auf dem Revier zuhause von Kerzenschein und Rockmusik empfangen.

„I want it all, I want it all, I want it all, I want it now“

Zum ersten Mal seit vielen Jahren nimmt er die alten Bilder aus dem Schrank und schaut sie sich an. Seine Augen füllen sich mit Tränen, seine Brust schmerzt. Sara hat es geschafft die eh nie verheilten Wunden aufzureißen. Irgendwie sieht er sowohl seine Helena als auch seine Klara (wie er sie sich heutzutage vorstellt) in Sara. Vielleicht hat er sie deshalb so schnell in sein Herz geschlossen.

Während seine Gedanken hinfort schweifen, in eine bessere Welt, die Vorstellung seines heutigen Lebens wenn es jenen Tag im Mai nicht gegeben hätte, schallt Queen weiter durch die Wohnung.

„Show must go on“

Und die Welt dreht sich weiter.


 

 

Eine seltsame Leere

11 Wochen bis Tag X


Nicht ganz eineinhalb Kilometer von Martin entfernt sitzt Sara auf ihrer abgesessenen Second-Hand Couch und starrt in ihr halbleeres Rotweinglas. Was für sie noch vor kurzem nach einer ziemlichen Entfernung geklungen hätte, fühlt sich jetzt wie ein Katzensprung an. Sie muss an einen alten Artikel aus dem Amnesty Journal denken, indem der Gazastreifen als ein Fliegenschiss von Land bezeichnet wurde. Diese Beschreibung findet sie jetzt ebenso passend. Und trotzdem hatte Martin heute darauf bestanden sie bis zur Haustür zur fahren, obwohl sie zu Fuß vielleicht 20 Minuten gelaufen wäre.

Während sie ihr Glas schwenkt und den konzentrischen Bewegungen des Weins folgt, kreisen ihre Gedanken wieder um den Tatort. Was hatte es mit der Kette auf sich? Lag diese vielleicht nur zufällig dort? In Berlin liegt ja nun überall irgendwas rum. Und laut Aussage der Eltern war das Opfer nicht religiös, die Kette ihnen gänzlich unbekannt. Vielleicht gehörte die Kette also gar nicht zum Opfer oder zum Tatort. Vielleicht hatte das Opfer aber auch einen geheimen Freund von dem die Eltern nichts wussten und dieser hat ihr die Kette geschenkt? Auch ihre Eltern wusste lange nichts von Dennis. Für viele Wochen trafen sie sich im Geheimen bis Sara endlich den Schritt wagte ihn mit nachhause zu nehmen. Das war in ihrer Heimat eine große Sache. Vielleicht war das bei dem Opfer ja ganz ähnlich? Immerhin kam sie aus gutbürgerlichen Verhältnissen.

Neben der Kette gibt das mögliche Motiv ihr Rätsel auf. In der Ausbildung war sie beim Motive-Raten immer sehr erfolgreich, aber hier? Sie hat keinen blassen Schimmer. Es gibt einfach keine Anzeichen auf sexuelle Gewalt, aber auch keine ernstzunehmenden auf einen Raubmord. Wurde der Mörder evtl. bei seinem Überfall gestört und konnte das Opfer deshalb nicht ausrauben? Warum aber wurde die Polizei dann nicht sofort gerufen sondern erst Stunden später? Nein, das bisschen entwendete Geld – falls überhaupt – war ein lediglich ein stümperhafter Versuch eine falsche Fährte zu legen. Wenigstens dabei ist sie sich sicher. Aber was war es denn? Während sie dort auf ihrer Couch sitzt und grübelt, ahnt sie bereits, dass dieser Fall alles andere als einfach wird.

Völlig verloren in Gedanken starrt sie ins Nichts und merkt gar nicht, wie die Stunden vergehen bis der Morgen langsam graut.


 

 

Schon mittendrin

11 Wochen bis Tag X


Als Sara etwas müde von der kurzen Nacht im Präsidium ankommt, sitzt Martin schon längst vornüber gebeugt am Schreibtisch und studiert Akten. Sein Kopf hebt sich langsam und seine leeren Augen trüben sich als er Saras fragendem Blick begegnet.

„Ick hab’s jeahnt! Wohl doch een weit’rer Irrer. Et hört eenfach nich uff in dieser Irrenanstalt von Stadt. Jugendliche, die aus Spaß Obdachlose anzünden, Besoff’ne die Andre vor die U-Bahn stoßen, Messerstechereien uff’n Fußballplatz. Reicht det nich? Jetzt anscheinend een Mehrfachmörder. Zumindest hab ick routinemäßig bei die Kollejen von and’ren Dienststellen anjefracht und et jibt dree weit’re Morde, deren Opfer vergleichbare Merkmale uffweisen. Alle unjelöst, natürlich. Zwar is eene Verbindung nich zwingend, aber ick befürchte schlimmet.“


Sara fühlt sich wie erschlagen. Bis gestern war sie noch hoch- und vielleicht sogar übermotiviert und heute sieht sie den berühmt-berüchtigten Kriminalhauptkommissar Martin Weinert so niedergeschlagen.

„Vielleicht hast Du Recht, Martin, vielleicht aber auch nicht. Aber siehe es doch mal positiv… Solltest du Recht haben, suchen wir nur einen Mörder – statt vieren. Und bei vier Opfern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Fehler gemacht hat.“

Sie versucht optimistisch zu lächeln. Martin wünscht sich diesen jugendlichen Elan zurück, der ihn doch auch einmal ausgezeichnet und den Helena so geliebt hat. Allerdings kann er seine Sorgen nicht zur Seite schieben. ‚Wer viermal ohne erkennbaret Muster mordet, ist dafür umso jefährlicher.‘, denkt sich Martin verbittert. Aber er bringt es nicht übers Herz Sara in ihrem Optimismus zu bremsen.

 


 

Lehrstunde fürs Leben

10 Jahre vor Tag X


Wie er dieses Internat hasst. Und mit Hass meint er Hass, nicht bloß einfache Abneigung. Er hasst einfach alles hier. Die versnobten gottesfürchtigen Mitschüler, die Kreuze an den Wänden, die Morgengottesdienste. Aber auch die Lehrer, die Nonnen, die Benimmregeln. Was haben sich seine Eltern dabei nur gedacht? Er ist jetzt seit zwei Wochen hier und wurde schon fünfmal diszipliniert. Ohne zu wissen warum. Hier gibt es nicht viel Nächstenliebe, kaum Nächste und definitiv zu wenig Liebe. Und heute muss er schon wieder zu Schwester Magdalena – die relativ junge und gut aussehende, aber deswegen nicht weniger strenge Disziplinar-Beauftragte des Internats.

Als er bei Schwester Magdalena eintrifft, steht sie mit dem Rücken zur Tür und bittet ihn einzutreten und sich hinzusetzen. Sobald er sitzt, verriegelt sie die Tür. ‚Seltsam‘, denkt er sich. ‚Heute gibt es wohl richtig Ärger‘.  Schwester Magdalene fordert ihn auf die Arme auf die Armlehnen zu legen. Ehe er sich versieht, saust von hinten der Rohrstock auf seine Finger sobald die Hände aufliegen. Er gibt ein Geräusch zwischen Keuschen und Wimmern von sich und bildet sich für einen kurzen Moment ein, ein genüssliches Grinsen auf ihrem Gesicht gesehen zu haben.

Schwester Magdalena lehnt sich weit nach vorn und schaut ihm ins Gesicht. Ihm fällt auf, dass bei ihrem Habit der weiße Unterkinn-Schleier fehlt und sein Blick wandert automatisch abwärts. Für einen kurzen Augenblick sieht er, dass sie einen Reiz-BH trägt. Augenblick spürt er ein heißes Brennen auf der Wange.

„Wir müssen Dir wohl noch einige Sünden austreiben. Gotteslästerung, Lügen, Wollust“,

haucht sie in sein Ohr und berührt ihn mit der Nase ganz leicht am Hals. Wäre es eine Klassenfahrt oder eine Kostüm-Party – dann wäre er jetzt im Land der Träume. Aber das hier ist real, es ist Schwester Magdalena und er möchte einfach nur weg von hier.

„Ich hoffe, dass Du Dich von jetzt an anständig benimmst. Wenn nicht, werden wir uns hier noch öfter sehen“,

säuselt sie in sein Ohr. Noch nie hat etwas so ruhig und unaufgeregt Gesagtes ihm solch eine Furcht eingeflößt.

Als er abends in seinem Bett liegt, kann er nicht schlafen. Er hat andauernd ihre Stimme im Ohr und sobald er die Augen zumacht, sieht er ihr Dekolleté und ihr diabolisches Grinsen vor seinem inneren Auge und spürt den heißen Schmerz auf der Wange. In dieser Nacht öffnet er zum ersten Mal die Bibel.


 

 

10 Jahre später

Im Hier und Jetzt

 
In die Bibel hat er schon seit vielen Jahren keinen Blick mehr geworfen. Auch wenn die Stimme in seinem Kopf ihn immer wieder ermahnte es zu tun. Allerdings hat er nie Frieden, Trost oder Geborgenheit in ihr gefunden, keine Vergebung oder Nächstenliebe aus diesen angeblichen Worten Gottes herauslesen können. Stattdessen immer nur Gewalt und Rachephantasien. Von der großen Sintflut, die nur Noahs Familie überlebte über das Abschlachten der Midianitern bis hin zum jüngsten Gericht. Das ist es was er verinnerlicht hat, was von seiner Zeit im Internat blieb. Der Wunsch nach Rache. Sein jüngstes Gericht steht kurz bevor.